Wo ist eigentlich die Arbeit? Interview mit Karsten Rudolph zum Tag der Arbeit, den 1. Mai

Karsten Rudolph (Vorsitzender der SPD Bochum) - Archivbild
Karsten Rudolph (Vorsitzender der SPD Bochum) - Archivbild

Der Bochumer SPD-Vorsitzende, NRW-Landtagsabgeordnete und Historiker, Karsten Rudolph, äußert sich anlässlich des 1. Mais zum Thema „Arbeit“.

Was sind eigentlich „Arbeit“ und „Arbeiterschaft“ heute?

Tatsächlich nimmt man sie nicht mehr so leicht war. Wenn man früher bei Opel vorbeifuhr, dann roch das, es war groß und man sah: Da arbeiteten Tausende. Und selbst die Arbeit, die früher unter der Erde stattfand, spürte man. Wenn man heute durch Bochum oder das Ruhrgebiet insgesamt geht, dann fragt man sich: Wo arbeiten eigentlich 80 Prozent der Beschäftigten? Das sind zum Beispiel Angestellte in Notariaten, von niedergelassenen Ärzten oder sie sind in der Kreativwirtschaft im vierten Stock irgendwo im Bermuda-Dreieck tätig und natürlich sind sie auch in der größten Branche Bochums, der Gesundheitsbranche, oder an den Hochschulen.

Kundgebung zum 1. Mai 2016

Wenn man früher ein Fabrikgebäude gesehen hat, dann wusste man, was da drin passiert: Die produzieren Autos oder Handys…
Aber wenn ich heute ein Gebäude sehe, wo angeblich mehrere hundert Leute arbeiten, dann weiß ich ehrlich gesagt nicht genau, was die da eigentlich machen. Sitzen die alle an Schreibtischen? Und kommt da irgendwas raus, was man sehen oder anfassen oder kaufen kann? Das, was Arbeit eigentlich ist und was am Ende dabei rauskommt, hat sich also verflüchtigt. Das heißt aber nicht, dass man weggucken sollte.
Eine SPD, die auch Arbeiterpartei im modernen Sinne des Wortes sein will, muss sich die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor anschauen.

Vor hundert Jahren war der 1. Mai zum ersten Mal Feiertag in Deutschland. Wie war die SPD daran beteiligt?

Der Hintergrund war eine Verabredung in der Sozialistischen Internationale, deswegen gibt es diese Kopplung der Forderung nach dem Acht-Stunden-Tag und einem Tag, an dem sich die Arbeiter auch selbst feiern. Es gab nach der Revolution und dem Ersten Weltkrieg die Chance, das in Deutschland durchzusetzen. Das ist tatsächlich nur einmal gemacht worden, und zwar 1919. Dann gab es dafür keine Mehrheit mehr im Parlament. Das war ein symbolpolitisch hochaufgeladener Konflikt, weil die SPD zum ersten Mal verlangte, dass die Arbeiterbewegung einen gesetzlichen Feiertag bekommt. Feiertage waren eigentlich nur vorgesehen für christliche Traditionen und vielleicht die Herrscherhäuser. Aber ansonsten mussten die Kinder in die Schule gehen und die Arbeiter arbeiten. Und jetzt sollten die Arbeiter einen Feiertag bekommen und alle anderen hatten deswegen frei.

Die Forderung nach einem Acht-Stunden-Tag wurde schon vor über 150 Jahren bei Protesten in Chicago formuliert. Wie zeitgemäß ist sie in Zeiten, wo Menschen lieber nur Teilzeit arbeiten, wenn sie es sich leisten können?

Die Idee des 1. Mai ist tatsächlich ein nordamerikanischer Export. Man sieht daran, wie international die europäischen Arbeiterbewegungen waren. Heute wie vor hundert Jahren über einen Acht-Stunden-Tag zu reden ist natürlich nicht mehr zeitgemäß. Aber interessant ist, sich heute über Ländergrenzen hinweg darüber zu verständen, welche Forderungen man an eine humane und soziale Arbeitswelt stellt. Es gibt ja eine weltweite Konkurrenz um Arbeitszeiten und Arbeitskraft und nach wie vor eine große Ausbeutung von Arbeitern. Hochaktuell ist also die Frage: Wie stellt man internationale Arbeitsnormen auf? Wie werden gerechte Löhne gezahlt? Wie verhindert man, dass profitorientierte Unternehmen durch die Länder wandern, dorthin wo die Arbeitskraft am billigsten ist?

Der 1. Mai ist also auch ein Tag der Internationalen Solidarität?

Ich würde sagen, der internationale Aspekt war immer der entscheidende. Die Forderungen dazu variieren: Früher war es der Acht-Stunden-Tag, vor 50 Jahren ging es eher gegen das Wettrüsten, für Frieden und Verständigung.

Und heute ist er vor allem ein Volksfest der Gewerkschaften?

Kundgebung zum 1. Mai 2017

Ein Volksfest war der 1. Mai auch immer schon. Nach der Demonstration gingen alle in den Stadtpark oder in die Volkshäuser, aßen gut und tranken Bier. Aber das ist ja auch gut und richtig. Es muss nicht nur ein „Kampftag der Arbeiterklasse“ sein – wie es in der DDR hieß. Der Tag wird organisiert vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) für alle Einzelgewerkschaften. Der DGB ist allerdings immer schwächer geworden in den letzten Jahren und die Einzelgewerkschaften stärker. Da verschiebt sich also etwas in der Relevanz und es wäre an der Zeit, dass die Gewerkschaften darüber reden: Wie werten wir gemeinsam mit anderen den Tag auf, wie machen wir ihn relevanter?
Wenn sie in Zeiten des wieder erstarkenden Nationalismus in Europa zu mehr Einigkeit aufrufen, sind die Gewerkschaften zwar am Puls der Zeit. Aber die Frage bleibt, ob man wie vor hundert Jahren eine Parole finden kann, die alles auf den Punkt bringt, alle Arbeiter auf ein klares Ziel vereinigt. Da bin ich skeptisch. Allgemein gehalten könnte es die Frage sein, wie eine soziale Globalisierung aussehen könnte. Dazu bräuchte es eine intensive internationale Debatte.

Versteht die SPD sich noch als Gewerkschaftspartei?

Die SPD hat natürlich in ihren Programmen immer gesagt, die ersten Bündnispartner für eine Reihe von Forderungen sind die Gewerkschaften, weil es da die größte gesellschaftliche Schnittstelle gibt. Da fallen mir Themen wie „Hartz IV überwinden“, „Grundrente“ „Tarifsystem sichern“ oder die Pflegereformen ein. Aber die Rede von der „Gewerkschafts-Partei“ verengt das, was die Sozialdemokratie ist. Sie ist mindestens ein Bündnis aus Arbeit, Kultur und Wissenschaft. Die Gewerkschaften wollen übrigens auch nicht auf eine Partei fixiert sein. Es ist gut, dass sie nicht wie in anderen europäischen Ländern strikt parteilich oder rein weltanschaulich orientiert sind.

Stichwort „Hartz IV überwinden“: Hat die SPD die Arbeiter als ihre ureigene Klientel vernachlässigt?

Kundgebung zum 1. Mai 2011

Ich glaube, dass die Zuschreibung als „Arbeiterpartei“ eine Romantisierung ist, weil die SPD das seit 1959 nicht mehr war – zumindest nicht nur. Sie war immer eine Partei auch der Angestellten, sei es verbeamtet oder in der Privatwirtschaft, der Intellektuellen, der Schriftsteller, der Lehrer… Die SPD hat sich ja bewusst in diese Richtung entwickelt, weil es keine Zukunft für eine reine Arbeiter-Funktionärspartei gab. Die Frage, die sich stellt: Sieht die SPD eigentlich, welchen Druck es in den Mittelschichten, also ihrer sozialen Basis, gibt – beim Thema Wohnen zum Beispiel. Ist sie ausreichend gut aufgestellt beim Thema Bildung in einer Zeit, wo Bildung immer noch oder sogar wieder stärker an Herkunft geknüpft ist. Sieht sie, dass die Mittelschicht in ganz Europa schrumpft? Und sieht die SPD die Problematik der Dienstleistungsgesellschaft? In Bochum arbeiten inzwischen immerhin mehr als 80 Prozent aller sozialsicherungspflichtigen Beschäftigen in diesem Sektor.

Aber es gibt auch die prekär Beschäftigten, die zum Beispiel mit Zeitarbeit über die Runden kommen. Was tut die SPD für diese Menschen?

Ich glaube, eine Stadt muss den Mut haben zu entscheiden, welche Firmen angesiedelt werden. Das hat Bochum getan. Man hat Opel damals mit offenen Armen empfangen und alles getan, was Opel wollte. In so eine Situation, wo man sich einem Unternehmen quasi ausliefert, darf man nicht wieder geraten. Deshalb ist etwa bei den Firmenansiedlungen auf Mark 51°7 wichtig, dass es eine gesunde Mischung gibt aus verschiedenen Branchen, aus Firmen, die einfache Tätigkeiten mit fairem Gehalt anbieten und Firmen mit Arbeitsplätzen, die höhere Qualifikationen erfordern.

Dunkle Zukunftsszenarien besagen, dass der Mensch im digitalen Zeitalter komplett aus der Arbeitswelt verschwinden wird. Wie ist das parteipolitisch denkbar?

Ich teile diese Utopie nicht. Wenn man nach Deutschland guckt: Nie war der Beschäftigungsgrad höher als heute und wahrscheinlich war die technologische Entwicklung nie so weit fortgeschritten. Aber es gibt natürlich berechtigte Ängste, weil die Arbeitsplätze ganz andere geworden sind und wieder andere werden. Ganze Berufsgruppen sind verschwunden. Wer ist heute noch Setzer? Die Digitalisierung führt zu einem neuen Schub, wo berufliche Tätigkeiten sich dramatisch verändern – in allen Bereichen. Die SPD hat im Landtag in Düsseldorf eine Enquete-Kommission beantragt, die genau das behandeln und schauen soll, wie man diese Entwicklung menschenwürdig gestaltet. Eine geläufige Frage ist zum Beispiel: Muss man beruflich immer überall erreichbar sein und was macht das eigentlich mit uns?

Eine aktuelle 1.-Mai-Forderung könnte also sein: „Weniger WhatsApp-Gruppen“?

Naja, eher: „Die Digitalisierung soll den Beschäftigten nutzen“!

1. Mai 2019 (ab 10:00 Uhr Demonstration):

1. Mai 2019: Europa. Jetzt aber richtig!